Spirituelle Kirchenführungen


Kurzfassung des Artikels: Tessen v. Kameke, Spirituelle Kirchenführungen, in: Aufbruch, veränderung, Verortung, Loccumer Protokolle 55/09, hg. v. G. Arndt-Sandrock, Loccum 2009, S. 61-75.

 

 

„Als Kind hatte ich nie den leisesten Zweifel an der Existenz Gottes, aber als vermeintlich aufgeklärter Erwachsener stelle ich mir heute durchaus die Frage: Gibt es Gott wirklich?“[1]

Schon dass sich Kerkelings pilgernde Selbstbefragung auf dem Weg nach Santiago de Compostella 100 Wochen auf Platz eins der Bestsellerlisten in Deutschland hat halten können, macht deutlich, dass er hier einen Nerv der Gesellschaft getroffen hat, Fragen ausgesprochen hat, die viele Menschen mit sich herumtragen; gerade auch die, die sich auf einen der im ganzen Land neu entstehenden Pilger-Wege machen, um zu suchen.

 

Pilgern

Menschen machen sich auf den Weg und suchen Begegnung. Mit der Natur? Mit der Kirche? Mit sich selbst? Mit Gott?

Zwei Motivationen werden immer wieder genannt: Die Auszeit, das Herauskommen aus der Kräfte zehrenden Geschäftigkeit, aus der Erschöpfung der täglichen Mühle, und die Suche nach etwas Echtem, Verlässlichen, wirklich Sinn Machenden.[2]

Denn das fehlt offenbar vielen Menschen heute, denen die Kirche unbekannt geworden ist, weil sie als Eltern oder Kinder der durch die 68er-Infragestellungen geprägten Erziehung „ohne Gott und Kirche“ aufgewachsen sind („Das sollen die Kinder später selbst entscheiden.“): eine Zeit und ein Ort, die den Alltag ausgrenzen und zum Innehalten einladen und zudem von dem handeln, was Bestand hat.

Mit Offenheit für neue, auch außergewöhnliche, spirituelle Erfahrungen betreten Pilgernde den Kirchenraum heute – und doch, so erzählen es die Pilgerbegleiter, meist mit gelernter Skepsis gegenüber der verfassten Kirchlichkeit (wie auch gegenüber Institutionen allgemein). Ob diese auf Erfahrungen oder Vorurteilen beruht, an der kritischen Haltung zur Kirche wird deutlich: die Pilgerinnen und Pilger suchen ehrlich echte Antworten, keine schnellen vorgefertigten Floskeln.

Und vielleicht ist es genau diese kritische, unwiderstehliche Ehrlichkeit in der Suche nach der Erfahrung des ganz anderen, die hier den Begriff „spirituell“ rechtfertigt. Pilgern ist spirituell, weil es den echten Fragen nachgeht, weil es einhergeht mit einer neuen Ausrichtung des Geistes, mit Wachheit, Offenheit, sich ergreifen zu lassen, Übung und Begegnung. Pilgern ist spirituell, weil es mich mir selbst nahe bringt und der Frage nach Sinn und nach Gott.

Wer Pilgerinnen und Pilger in Kirchen empfängt, steht somit vor einer doppelten (ggf. dreifachen) christlichen Aufgabe: Menschen, die suchen, 1. Raum zu geben für ihre tiefen Fragen, und 2. sie einzuladen und heranzuführen an die unbekannt gewordene Religion als Angebot, eine Deutung Ihres Lebens im Blick des Glaubens zu wagen und zu erschließen, und wo möglich vielleicht sogar 3. Ihnen Wege aufzuzeigen zum Eigentlichen.

Dabei kann die eigene Bewegung der Pilgernden hilfreich sein, die auf dem Weg und dabei offen für Erfahrungen sind, denn diese Bewegung kann auch im Kirchenraum aufgenommen werden: im Wege Nachschreiten, im Stationen Begegnen, im Orientierung Erfahren.

 

Wege nachschreiten

Wer in Kirchen führt, öffnet Räume am originalen Ort, die erfüllt sind mit Spuren von Glaubenserfahrungen der Jahrhunderte[3] und oft auch mit Erwartungen derer, die sie betreten. Viele, die kommen, suchen das Besondere und sind offen für eigene spirituelle Erfahrungen.

Kirchenführer und Pilger sind miteinander auf dem Weg und gehen in der Kirche ein Stück gemeinsam, jeder auf seine Art suchend mit den jeweiligen Bedürfnissen, Glaubenserfahrungen und Glaubensanfragen, Kanten und Ecken. Einen didaktischen Leitfaden dafür finden sie im Aufbau des Kirchenraums in Anlehnung an den liturgischen Ablauf des Gottesdienstes (der im Einzelfall selbstverständlich auf den jeweiligen Kirchenraum hin zu modifizieren ist). Denn da Kirchen in ihrer Anlage Wegweiser der Orientierung auf die Ankunft des Heiligen sind, bietet es sich an, auch die spirituelle Kirchenführung im Charakter der schrittweisen Annäherung an das Besondere zu inszenieren.

Denn Religion lernt man nicht als Lehre kennen (Wer den Segen verstanden hat, hat damit nicht erfahren, was es heißt, ihn zu empfangen.), sondern durch Begegnung, praktisches Tun in Ritualen, Symbolen und Räumen in teilnehmendem Mitvollzug – und das am besten vor Ort mit Kopf, Herz und Hand, quasi „von außen nach innen.”[4] Dazu zeigt der Raum Wege auf, die man gehen kann, und nimmt damit die Bewegung der Pilgernden auf. Und er beschreibt, wie Religion heute gelebt wird, und lädt damit ein, sich von der Religion erzählen zu lassen und sich in Religionsausübung zu erfahren.

 

Stationen begegnen

Spirituelle Kirchenführungen sind bestimmt von Reduktion und Verlangsamung. Reduktion bedeutet Elementarisierung, zum entscheidenden Punkt kommen, Ausschweifungen meiden, vor allem aber: der ablenkenden grellen Vielfalt der bunten (Werbe-)Welt eine Ruhepause zu geben, um zu dem zu kommen, was wirklich wichtig ist.

Verlangsamung ist ein wesentliches kirchenpädagogisches Grundanliegen und ein bewusstes Gegensteuern in einer schnelllebigen kurzgetakteten Zeit. Langsamkeit bedeutet Intensivierung. Es ermöglicht achtsames Wahrnehmen. Verlangsamung lässt Raum, eigene Anliegen einzubringen und sie mit der im Kirchenraum abgebildeten spirituellen Praxis und den Erfahrungen auf dem Weg in Beziehung zu setzen, um so ein Sich-Verorten im Raum der Religion entstehen und wachsen zu lassen.

 

Ankommen

Für Pilgernde bedeutet Ankommen zunächst einmal Gepäck abladen und sich umsehen. Ist ihr Gepäck gut gelagert, sind sie frei, sich im Kirchenraum zu bewegen, sich auf den Kirchenraum und seine Geschichten einzulassen, Spuren zu erkennen, Atmosphären wirken und Fragen entstehen zu lassen. Die Besinnung im geschützten Raum öffnet für die mitgebrachten Fragen und gibt ihnen Gewicht.

Hier gilt es, Raum und Zeit zu lassen, auf die Eigenwirkung des Kirchenraums zu vertrauen. Eine Begrüßung ist willkommen, eine Aufforderung, sich umzusehen, ggf. begleitet vom Vorschlag, zunächst auf den ersten Eindruck oder auf Spuren des Glaubens zu achten oder einen Ort besonderer Ausstrahlung zu finden. Ein in die Hand gelegtes Teelicht kann beim ersten Rundgang verlangsamend und konzentrierend wirken.

 

Erkunden

Wenn oben gesagt wurde, dass es Aufgabe der spirituellen Kirchenführung ist, heranzuführen an Bilder, Geschichten und Worte der unbekannt gewordenen Religion, ist hier der Ort für einen Input. Nicht der ganze Kirchenraum, sondern ein oder zwei Orte werden hier vorgestellt, Orte, die Glaubensgeschichten bergen und erzählen.

Dazu wird kurz erzählt und wenig erklärt, vielleicht zeigen die Gäste mit der Taschenlampe einander selbst, was sie entdecken. Vielleicht singen sie einen Text nach oder ertasten ein verhülltes Kunstwerk oder eine Figur mit geschlossenen Augen. Die Botschaft vermittelt sich nicht nur über Sprache, mitunter wirkt sie über das Gefühl noch tiefer und bleibender. Wer sich Aussagen selbst erschließen kann, trägt sie länger in sich.

Möglich ist auch, ein persönliches Bibelwort ziehen zu lassen, das einen begleiten kann auf dem weiteren Weg durch die Kirche – und ggf. auf dem weiteren Weg des Pilgerns.[5] Oder man lädt ein, bewährte Texte nachzusprechen oder zu singen: Psalm 23 oder 139, o.ä. Wer das Vaterunser spricht, erfährt sich in der Perspektive des Glaubenden.

 

Vertiefen

Während die Erkundungsphase an den Kirchenraum mit seinen Bildern und Geschichten heranführt, gibt die Vertiefungsphase Raum für die eigenen Fragen, die die Pilgernden mitgebracht haben, die sie vielleicht eigentlich auf den Weg gebracht haben. Genauer: In der Vertiefungsphase begegnen sich individuelle Fragen und Raum.

Die Vertiefungsphase gibt dem Einzelnen Gelegenheit, sich meditativ – und vielleicht auch kreativ – der Abgeschiedenheit des abgegrenzten Raums auszusetzen, sich verstricken zu lassen in dessen Glaubengeschichten und sich probeweise im Blickwinkel des Religiösen zu erfahren.

Es bietet sich an, eine Gebetsecke aufzusuchen und dort die Möglichkeit zu geben, in die Stille zu hören, oder mit einem Wort des Dankes oder der Bitte eine Kerze anzuzünden. Es bietet sich an, selbst beschriebene Gebetszettel in eine Mauer zu stecken oder in eine Schale zu legen, ein Wort ins Gästebuch zu schreiben, eine Geschichte aufzuschreiben, ein Fensterbild auszumalen etc. etc.

Entscheidend ist aber nicht das Produkt, sondern die Möglichkeit für den Einzelnen, alte und neue Gedanken, Eindrücke, Ideen ins Gespräch zu bringen und reifen zu lassen.

 

Ablösen

Die Ablösephase ist kurz. Sie dient dazu, die Begegnung gemeinsam abzuschließen und ggf. zu bündeln. Hier bietet es sich an zu schenken und zu segnen.

Als Zeichen für Begleitung auf dem Weg kann ein Mitgebsel geschenkt werden. Nicht Prospektmaterial, sondern etwas Kleines, Wichtiges, Kostbares, vielleicht eine Muschel oder eine Feder, vielleicht etwas duftendes Salböl oder ein Samenkorn.

Das für Pilgernde meist wichtigste Geschenk, das sie mitnehmen, aber ist ein Segen. Für die Pilgerinnen und Pilger ist es von tiefer Bedeutung, annehmen zu dürfen, die Gedanken ruhen lassen können, den Zuspruch des Schutzes und des Heil(en)s mitnehmen zu können – für jetzt und für den weiteren Weg. Der (z.B. irische) Reise-Segen richtet das Unterwegs-Sein in der Zusage Gottes aus.

 

Orientierung erfahren

Als Eingangsthese dieses Aufsatzes war bestimmt: Wer Pilgerinnen und Pilger in Kirchen empfängt, steht vor einer doppelten (ggf. dreifachen) christlichen Aufgabe: Menschen, die suchen, 1. Raum zu geben für ihre tiefen Fragen und 2. sie einzuladen und heranzuführen an die unbekannt gewordene Religion, und wo möglich vielleicht sogar 3. Ihnen Wege aufzuzeigen zum Eigentlichen.

Die spirituelle Kirchenführung gibt Raum für Fragen (Punkt 1: Ankommen und Vertiefen) und Spuren und Hinweise des religiösen Lebens (Punkt 2: Erkunden und Vertiefen). Der 3. Punkt ist methodisch nicht „machbar“, kann in der spirituellen Kirchenführung aber dennoch seinen Raum haben. Denn eine solche Begehung am eigentlichen originalen Ort berührt in Anlage, Methodik und Zielsetzung religiöses Geschehen. Hier geschieht schrittweise Annäherung an Religion durch mitvollziehende Teilnahme an spirituellen Ausdrucksformen religiösen Lebens. Und „die Beobachtung der Welt aus der Sicht einer Religion (ist) immer schon ein Aspekt ihres Vollzugs.“[6]

Spirituelle Kirchenführungen berühren religiöse Praxis. Sie geben Raum, in dem Gott Platz hat. Sie orientieren den Weg und führen an die Schwelle eigenen religiösen Handelns und ermöglichen und ermutigen damit, weitere Schritte auf dem Weg zu Gott hin zu wagen.

 

Literatur

Bizer, Christoph, Liturgik und Didaktik, in: JRP 5 (1988), Neukirchen-Vluyn 1989, 83-111.

Julius, Christiane-Barbara / von Kameke, Tessen / Klie, Thomas / Schürmann-Menzel, Anita, Der Religion Raum geben, Eine Praxishilfe zur Kirchenpädagogik, Loccum 1999.

von Kameke, Tessen, Kirchenpädagogik, in: Neues Handbuch Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (BRU-Handbuch), hg.v. der Gesellschaft für Religionspädagogik und der Dt. Katechetenvereinigung, Neukirchen-Vluyn 2005, S.517-530.

Kerkeling, Hape, Ich bin dann mal weg, Meine Reise auf dem Jakobsweg, München 202006.

Klie, Thomas (Hg.), Der Religion Raum geben, Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, in: Grundlegungen, Veröffentlichungen des Religionspädagogischen Instituts Loccum III, Münster 1998.

Polak, Regina, Megatrend Spiritualität?, in: Quart 1/2008 u. 2/2008, Zeitschrift des Forums Kunst-Wissenschaft-Medien der katholischen Aktion Österreich, Wien 2008, 4-7.

Rupp, Hartmut (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik, Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, Stuttgart 2006.

Steffensky, Fulbert, Gott im Kinderzimmer, Über den Versuch, Religion weiterzugeben, in: Glaube und Lernen I/98, Zeitschrift für Theologische Urteilsbildung, Themenheft: Ritual, Göttingen 1998, 6-10.

Volp, Rainer, Kirchenbau und Kirchenraum, in: Handbuch der Liturgik, hg. v. H.-Chr. Schmidt-Lauber u. K. Bieritz, Göttingen 21995, 490-509.

Tessen v. Kameke



[1] H.P. Kerkeling, Ich bin dann mal weg, 2006, 20.

[2] Laut der Studie ‚Spiritualität in Deutschland’ der nicht kirchennahen Düsseldorfer Indetity-Foundation vom März 2006 ist „jeder siebente Deutsche … ein spiritueller Sinnsucher“, das sind mehr als 10 Millionen Menschen in Deutschland. Vgl. R. Polak, Megatrend Spiritualität?, 2008, 4.

[3] Nach Volp sind sie „durch Gotteserfahrungen geheiligte Texte, … (die) etwas von Gotteserfahrungen atmen“. R. Volp, Kirchenbau und Kirchenraum, 1995, 491.

[4] F. Steffensky, Gott im Kinderzimmer, 1998, 4.

[5] Diese Idee verdanke ich Hermann Meier, der im Kloster Volkenroda ankommende Pilger mit einem solchen Bibelwort begrüßt.

[6] Th. Klie, „Öffentliche Reizung zum Glauben“, in: Th. Klie, Der Religion Raum geben, 1998, 89.

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