Zur Bedeutung des Kirchenraums

 

Kirchen sind besondere Orte. Sie sind Häuser Gottes. Mit ihnen verbinden sich Erinnerungen und Erfahrungen, Geschichten und Fragen, die Suche nach Momenten der Ruhe in hektischer Zeit und oft auch nach dem Gebet, nach Gott. Was aber macht das „Besondere“ dieses Ortes aus?

Ein Blick in die Theologie ernüchtert: Nach protestantischem Verständnis ist das Kirchengebäude kein heiliger Raum. Luther und Calvin hatten – gegen die in der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit verbreitete Vorstellung, dass göttliche Macht heiligen Gegenständen anhaftet – die Kirche (von κυριακη/kyriake – dem Herrn gehörig) funktional bestimmt: Sie dient dem Zusammenkommen der Christen zu Verkündigung und Gebet, also zur Begeg­nung mit Gott im Gottesdienst. Ort, Raum und Zeit der gottesdienstlichen Versammlung sind danach grundsätz­lich beliebig und austauschbar. Zur Not geschieht sie am Brunnen oder im Saustall. Geheiligt wird der Raum allein im Ereignis der Gottesbegegnung im Gottesdienst in Wort (Verkündigung und Gebet) und Sakrament. An sich aber eignet ihm keine besondere Macht oder Heiligkeit (‚nihil extra usum’, Vgl. FC, SD VII, in: BSLK, 1001).

Doch Kirchenräume werden nicht allein funktional wahrgenommen, sondern sinnlich-ästhetisch und mit persönlichen Bezügen und Anfragen. Im Blick auf Kirchen findet heute ein Umdenken statt. Um ihre Bedeutung zu erfassen, greift eine rein theologische Betrachtungsweise zu kurz. Für die Menschen haben Kirchen Ausstrahlungs- und Aussagekraft. Wer den Kirchenraum umfassender begreift, entdeckt in ihm den Raum der Einkehr (kontemplative Dimension), weil man mit dem Betreten des „umfriedeten Ortes“ die profane Geschäftigkeit hinter sich lässt; den Raum des Hinweises (hermeneutische Dimension), weil die Bilder und Symbole, die Prinzipalstücke und ihr Arrangement miteinander, die Zeichen und Spuren religiösen Lebens mit Gott Hinweise geben auf die Wirklichkeit des Glaubens in der Welt – gestern, heute und morgen; den Raum der Orientierung (liturgische Dimension), weil der Kirchenraum ausgerichtet, orientiert ist (Orient = Osten) auf den – entgegen – kommenden Christus.

Phänomenologisch gesprochen berührt der Raum und gibt Raum, sich berühren zu lassen. Es ist ein Ort, der nicht festlegt, sondern anbietet, ein Raum der Freiheit, der auch fremd ist, aber gerade darin ein Erkennen ermöglicht. Denn das Fremde birgt Staunen und entfaltet eine motivierende Kraft zu verstehen und nachzuvollziehen. In den Verweisen und Spuren begegnet die Welt des Glaubens. Der Kirchenraum nimmt mit hinein in diese Welt und weist sie aus als Verstehenshorizont und Sinnangebot. Gerade deswegen bieten Kirchengebäude heute eine unschätzbare missionarische Chance.

Denn wer sich einladen lässt, der Kirche zu begegnen, entdeckt in ihr in der Tat den Ort des Besonderen, den Ort, der den Alltag unterbricht und auf Tieferes verweist, den Ort, der das Gebet arrangiert und spirituelle Erfahrungen atmet, den Ort, der Orientierung verheißt und auf Hoffnung hin gebaut ist, den Ort, wo das Leiden Raum und das Schweigen Gewicht hat, nicht weil er groß ist und erhaben, nicht weil er alt ist und kunstvoll, nicht weil er heilig ist und machtvoll, sondern weil es der Ort ist, an dem der Name Gottes genannt wird.

   Tessen v. Kameke

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